Unser diesjähriges Leitthema lautete: "Der Jakobsweg – Illusion und Wirklichkeit".
Äußerlicher Anlass für die Wahl dieses Mottos waren Schwierigkeiten bei der Vorbereitung. Trotz mittlerweile Unmengen von Büchern und Bildbänden zu Jakobswegen aller Art ließ die für die diesjährige Etappe zur Verfügung stehende Literatur keinen roten Faden erkennen, der die einzelnen Stationen und die Tage hätte verknüpfen können. Wie immer gingen wir von dem aus, was uns der Weg selbst an Impulsen anbot, um Meditation und Gebet, Betrachtung und Erzählung miteinander zu verbinden. So ließen wir das Thema offen und konnten auf diese Weise Verschiedenstes zusammenfügen.
Dazu gehörte zunächst die Begegnung mit dem oberschwäbischen Barock, der sich uns in vielen Dorfkirchen in volkstümlicher Weise wie auch in großer Vollendung, so am Anfang unseres Weges in Erbach und am Ende in Biberach, darbot. Der Himmel auf Erden, bzw. die in den Himmel geöffnete Erde ist ein Thema der Barockkunst von der schwungvollen Heiligenfigur über den Reigen der Putten und Engel bis zum prächtigen Deckengemälde, das den Blick ins leuchtende Jenseits freigibt. Dass dies auch vom gläubigen Menschen der Barockzeit nicht naiv als Realität gesehen wurde, sondern durchaus illusionsverdächtig war, zeigen andere Themen wie das lebenslustige „carpe diem“ – "nütze den heutigen Tag" und lebe jetzt, das dunkle "memento mori" – "denke, dass du sterben musst" oder die auch biblisch bekannte „vanitas vanitatum“ – "alles ist eitel". Leben und Tod, Blüte und Vergänglichkeit, vielleicht auch Illusion und Wirklichkeit, das barocke Lebensgefühl bringt beides zusammen, und ist gerade deshalb wirklichkeitsnah.
Ein weiterer Anstoß, um Illusion und Wirklichkeit zu spüren, war der lange Weg des zweiten Tages. Wir mussten Unterkunft für 32 Personen organisieren, und das ließ sich nicht anders machen als eine Strecke von 27 Kilometern zu bewältigen, und das weitgehend auf Asphalt. Wir legten fünf Stationen ein, um die Teiletappen nicht zu groß werden zu lassen und immer wieder Pausen machen zu können, und siehe da, es ging – für eine große Gruppe mit unterschiedlichster Geherfahrung eine respektable Leistung. Der Jakobsweg in unserer Zeit kann sich nicht auf Promenadenstrecken und Naturidylle beschränken. Die Straße, der Autoverkehr, die Asphaltpiste gehören dazu, eine Wirklichkeit, die die Illusion eines verwöhnten Spazierengehens austreiben kann, vor allem wenn das Wetter nicht mitspielt. Mit letzterem hatten wir Glück: Es war während des ganzen Tages leicht bewölkt und ein frischer Wind ließ es nicht zu heiß werden. Positive Überraschungen allerdings gab es auch: An unserer letzten Station wurde eine große Hochzeit gefeiert. Als wir eintrafen, kamen die Leute eben aus der Kirche, hielten einen Umtrunk und zogen dann ins benachbarte Gemeindehaus. Es war noch einiges an guten Sachen übrig, und so wurden ohne Umstände noch einmal Gläser ausgepackt und eingeschenkt und jeder von uns, der meinte, die letzte Stunde Fußweg auch leicht beschwingt durchstehen zu können, konnte auf das Wohl des Brautpaares trinken. Was für eine wunderbare Gastlichkeit an einem Tag, an dem man sie wirklich gebrauchen konnte!
Da unser Pilgerweg ausdrücklich ökumenisch besetzt ist, auch hierzu noch einige Eindrücke: Die zweite Station des langen zweiten Tages hielten wir in der Kirche von Ersingen. Das Dorf stand zu einem großen Teil unter dem Einfluss des nahen Ulm und wurde in der Reformationszeit zusammen mit der Stadt evangelisch. Das hinderte die Dorfbewohner nicht daran, den spätgotischen Figuren- und Gemäldeschmuck der Kirche zu behalten und diese in der Folgezeit im Stil des Barock weiter auszugestalten. Doch Vorsicht vor ökumenischen Illusionen! Die Kirche wird heute zwar auch von den Katholiken des Ortes genutzt. Der Pfarrer hat ihnen sogar einen Schlüssel ausgehändigt, aber daraufhin prompt in seinem Kirchenvorstand den Vorwurf zu hören bekommen, er würde die Kirche katholisch werden lassen.
Etwas mehr ökumenischer Realsinn hat sich in Biberach durchgesetzt, unserer Abschlussstation. Nachdem die Stadt wie viele freie Reichsstädte in der Reformation gegen das katholische Habsburg zum großen Teil evangelisch geworden war, wurde der katholische Gottesdienst verboten. Aber schon 1548 einigte man sich, die Kirche simultan zu nutzen. Die Katholiken feierten im Chorraum Gottesdienst, die Protestanten im Kirchenschiff. Wie in Ersingen wurde auch in Biberach die Kirche barock ausgestaltet. Heute wird der gesamte Raum zu festgelegten Zeiten von den beiden Konfessionen genutzt. Es gibt ein „ökumenisches“ Geläute, einen Schriftenstand, an dem man aufpassen muss, die Konfessionen nicht zu verwechseln, für jede Konfession ein eigenes Taufbecken – und, so hat man uns gesagt, für jede Konfession auch eine eigene Putzkolonne, denn über nichts kann man so schnell und so gründlich in Streit geraten wie über einige zu viel liegen gebliebene Staubkörnchen. Trotzdem, ob in Biberach sich nicht doch einfach, allen dogmatischen Streitigkeiten zum Trotz, so etwas wie gesunder Menschenverstand durchgesetzt hat, gewachsen aus dem Freiheitsgeist der Reichsstadt, bestärkt durch das gut biblische Wissen um die christliche Freiheit? Nach dem Motto: Wir werden uns in unserer Stadt doch auf praktischer Ebene einigen können, mögen andere große und kleine Herren sagen, was sie wollen!
In diesem Sinne: Ultreya - bis zum nächsten Jahr!
Gerhard Schneider
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