Der vielleicht letzte, allein für die Apostelkirche zuständige Priester war Wolfgang Schneider, der als Lokalkaplan vom 1. Februar 1990 bis 24. Januar 1993 die Leitung der Gemeinde (damals noch Filialgemeinde von St. Xystus) innehatte.
Wolfgang Schneider ist in Forchheim geboren und in Erlangen aufgewachsen. Er wurde nach seinem Theologiestudium 1983 in Bamberg zum Priester geweiht und trat seine erste Kaplanstelle in Herzogenaurach an. Seit dieser Zeit hat er sich auch bei Aktivitäten der Christlichen Arbeiterjugend (CAJ) engagiert. Nach fünf Jahren wechselte er im Januar 1989 auf eigenen Wunsch nach Coburg, wo er für zwei Filialgemeinden zuständig und gleichzeitig Dekanatsjugendseelsorger war. Von dort kam er nach Büchenbach. Im Anstellungsschreiben des Erzbischöflichen Ordinariats wurde seine Zuständigkeit für die Gemeinde Apostelkirche ausdrücklich festgelegt, wiewohl eine strikte Trennung von St. Xystus nicht festgehalten war.
Durch sein offenes Wesen und seinen jugendlichen Charme hat sich Wolfgang Schneider in kürzester Zeit in der Gemeinde viel Sympathie und Ansehen erworben. Dies wird deutlich in einem Artikel in den IMPULSEN vom Juni 1993. Darin heißt es u. a.:
So haben wir Wolfgang Schneider als Priester und Freund erlebt, in seinen Predigten und im täglichen Umgang: sensibel, abwägend, unaufdringlich, gerecht und engagiert, vor allem aber mit einer Ausstrahlung von Sympathie und Liebe gegenüber den Mitmenschen, die jedem warm ums Herz werden ließ, der mit ihm zu tun hatte.
Wolfgang Schneider hat in der Gemeinde der Apostelkirche viel Freude verbreitet und seine Fröhlichkeit war erfrischend und ansteckend. Er hat es aber auch verstanden, Menschen, die in bedrückender Situation seinen Rat und Zuspruch suchten, aufzurichten, ihnen neue Hoffnung zu schenken, und wenn es sein musste, auch Trauer und Angst mit ihnen zu teilen.
Angesichts der geradezu dramatischen Umstände, unter denen er nach drei Jahren die Gemeinde verlassen musste und auf die an anderer Stelle näher eingegangen wird, ist es verständlich, warum er in seinem ausführlichen Beitrag „Persönliche Eindrücke aus meiner dreijährigen Zeit in der Apostelgemeinde“ den Leser teilhaben lässt an seinen Gefühlen.
Als ich nach Büchenbach und in die Apostelgemeinde kam, nahmen die beiden hauptamtlichen Pioniere der Gemeinde Abschied: Frau Kiesewetter wechselte zum Stadteiltreff in der Odenwaldallee, Herr Wittwer hatte sich entschlossen, eine andere Pfarrei zu übernehmen.
Ich kam mit Achtung vor dem, was in dieser Gemeinde entstanden war, und erlebte engagierte Menschen, denen das Leben der Gemeinde am Herzen lag, Menschen, die mit beiden Beinen im Leben standen und die in beruflicher und gesellschaftlicher Realität ihr Christsein lebten, die Antworten aus dem Glauben auf ihre heutigen Fragen suchten und nicht mit althergebrachten Lösungsangeboten zufrieden waren.
Ich wollte weiterführen, was gewachsen war. Ich wollte nicht eine Pfarrei, in der die Gläubigen die Fans des Pfarrers sind, sondern in der die Menschen ihr Leben als Christen in der Gemeinde aktiv selbst gestalten, und in der der Pfarrer im Wesentlichen die Aufgabe der Koordination und Unterstützung hat.
Ich erlebte die Apostelgemeinde als eine sehr aufgeschlossene Gemeinde, die sich ihrer Verantwortung im Stadtteil stellte und das soziale Leben aktiv und konstruktiv mitgestaltete. Zeichen dafür war der Hort, der Kindern und Jugendlichen Hausaufgaben- und Freizeitbetreuung anbot. Im gleichen Sinn übernahm die Kirchenverwaltung die Trägerschaft der Kinderkrippe, die heute aus der Gemeinde nicht mehr wegzudenken ist. Beide Einrichtungen waren bei ihrer Inbetriebnahme jeweils ein Novum für eine Kirchengemeinde.
Ich erinnere mich an viele Familiengottesdienste, in denen alle Beteiligten zu einer freudigen Stimmung beitrugen. Ich erinnere mich an Taufgottesdienste, in denen viele Kinder eine leichte Stimmung in die Kirche zauberten. Ich erinnere mich an Erstkommunionfeiern, an eine Firmung mit einem ähnlichen Geist. Die GottesdienstbesucherInnen an den Sonntagen erlebte ich als eine interessiert kritische Gemeinde.
Ich erinnere mich an Werktagabendgottesdienste, in denen wir im Stuhlkreis um den Altar saßen, miteinander über die biblische Geschichte ins Gespräch kamen und danach in einfacher Form Eucharistie feierten, schlicht und dabei sehr persönlich.
Ich erinnere mich an das selbstverständliche Miteinander mit der evangelischen Martin-Luther-Gemeinde, sowohl mit den PfarrerInnen als auch den Gemeindegliedern.
Ich erinnere mich an die Tanzgruppen, die jeden Donnerstagabend das Gemeindezentrum belebten. Eine Frau aus einer dieser Gruppen sagte einmal, dass dies allwöchentlich ein wichtiger Abend für ihr Zusammenleben als Paar sei: ohne Worte sich des Gespürs füreinander zu vergewissern. Diese Äußerung bestätigte mein Empfinden, dass die Gemeinde mit solch „weltlichen“ Aktivitäten einen Rahmen schafft, in dem die Menschen heil an Leib und Seele werden können.
Ich erinnere mich an einen Gesprächskreis, in dem über aktuelle und persönliche Themen gesprochen wurde und auch immer wieder Abschnitte aus dem Neuen Testament den Ausgangspunkt für die Gespräche bildeten. Da waren keine Teilnehmerinnen, die alles so nahmen, wie der Priester es sagte, sondern nachfragende, kritische Frauen, die um Antworten rangen, mit denen sie etwas anfangen konnten und die oft nicht so schnell auf der Hand lagen. Alle diese Gespräche fand ich herausfordernd und sehr anregend.
Ich erinnere mich an die unkomplizierte und dabei sehr ernsthafte Zusammenarbeit mit vielen Menschen, die in der Gemeinde tätig waren.
Mein Abschied war dann kein gewöhnlicher, sondern für mich gleichzeitig Abschied aus dem kirchlichen Amt. Die Entscheidung zu heiraten, die für die meisten Menschen eine ganz persönliche Angelegenheit ist, hatte in meiner Position im kirchlichen Leben Auswirkungen, die nicht nur mich betrafen. Sie hatte Konsequenzen für die Gemeinde und für die kirchliche Öffentlichkeit. Und sie betraf gewachsene menschliche Beziehungen.
Darum hielt ich es für selbstverständlich, diesen Schritt offen in der Gemeinde zu kommunizieren. Ich wollte mich den Reaktionen und Fragen der Menschen stellen, dem Schmerz nicht ausweichen und dem Abschied Zeit geben.
Darum habe ich meinen Entschluss und die sich daraus ergebende Konsequenz im sonntäglichen Gottesdienst am 24. Januar 1993 mitgeteilt und der Gemeinde Anteil an meinen Beweggründen gegeben. Mir war klar, dass dies nicht bei Allen Zustimmung auslösen würde, aber es war mir wichtig, meine innere Beschäftigung, meine Gedanken und Gefühle transparent zu machen. Ich wollte damit eine Auseinandersetzung in der Gemeinde ermöglichen. Wenn schon die Gemeinde nicht mitentscheiden konnte, sollte wenigstens Platz für ehrliche Reaktionen sein.
Mir ist noch heute die emotional dichte und betroffene Stimmung im Gottesdienst erinnerlich. An der Kirchentüre begegnete mir viel Betroffenheit, z.T. mit Worten oder auch nur in den Gesichtern. Mir begegnete viel persönliches Verständnis und Solidarität, bei gleichzeitiger Trauer und Enttäuschung. Einzelne konnten mich nicht verstehen und schienen sehr verletzt, aber die positiven Reaktionen waren überwältigend. Mit so viel anteilnehmender und zustimmender Resonanz hatte ich nicht gerechnet.
Die Gespräche in der folgenden Woche waren von der Grundstimmung her betroffen und irgendwie sprachlos, auch wenn z. T. viele Worte gewechselt wurden. Zum Ende der Woche hin und in der folgenden Zeit entstanden daraus Aktivitäten, die eine öffentliche Diskussion über das Priesterzölibat auslösten. Briefe an die Bistumsleitung, andere Gemeinden und die Presse ließen eine öffentliche Auseinandersetzung entstehen, deren Ausmaß mich mitunter erschreckte. Ich erlebte eine Gemeinde, die ihre unmittelbare Betroffenheit zum Anlass nahm, sich in eine grundsätzliche Diskussion einzuschalten und diese sehr entschieden und konfliktbereit über relativ lange Zeit führte. Mein Entschluss war zwar der Auslöser, aber oft war ich gar nicht mehr das Thema, es ging um die grundsätzliche Frage: Wie soll die Kirche aussehen, zu der wir gehören (wollen)? Ich spürte darin viel persönliches Engagement und Leidenschaft für das Gesicht einer Kirche, in der unterschiedliche Sichtweisen und Lebensentwürfe ihren Platz haben, wenn sie in der Grundausrichtung an Jesus von Nazareth, dem Christus, festhalten.
Auch und gerade in diesen Aktivitäten wurde mir klar, dass die Menschen dieser Gemeinde ihr Leben als Christen in dieser Kirche sehr aktiv und selbstbewusst mitgestalteten, so wie ich mir eine christliche Gemeinde vorstelle.
Die drei Jahre in der Apostelgemeinde waren für mich sehr anregend und dicht. Es war eine sehr wichtige, wertvolle und entscheidende Zeit für mein weiteres Leben.
Wolfgang Schneider, 15.02.2009
Der erzwungene Weggang von Wolfgang Schneider hat die Gemeinde aufgewühlt und in tiefe Unruhe gestürzt. Zum Ausdruck kommt dies in dem bereits erwähnten IMPULSE-Artikel zu seinem Abschied:
Wir haben Wolfgang Schneider während seiner Zeit in Büchenbach schätzen gelernt und einfach lieb gewonnen. Die Umstände seiner Suspendierung als Priester und die Entlassung aus dem kirchlichen Dienst haben viele traurig gestimmt; sie haben aber auch Zorn und tiefes Unverständnis über die Haltung und das Vorgehen unserer Bistumsleitung geweckt. Das nach wie vor wache öffentliche Interesse und die vielen positiven Reaktionen auf die »Büchenbacher Erklärung«, die Pfarrgemeinderat und Kirchenverwaltung an die Bistumsleitung gerichtet haben, beweisen, daß viele engagierte Christen unsere Auffassung teilen. Der Mut und die Offenheit, mit der Wolfgang Schneider sein Anliegen an die Öffentlichkeit getragen hat, werden ihre Früchte tragen.
Nach seiner Zeit in Büchenbach hat Wolfgang Schneider in Nürnberg Sozialpädagogik studiert und ist seit Februar 1996 als Sozialpädagoge beruflich mit psychisch kranken Menschen beschäftigt, zunächst als Fachdienst und später als Leiter in einer Wohnstätte in Sulzbach-Rosenberg. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Chronik, d. h. im Sommer 2008, ist er als Projektleiter für mehrere Einrichtungen des Trägers verantwortlich und u. a. zuständig für Fortbildung von Mitarbeitern und das Qualitätsmanagement. Er lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Altdorf.